Letzten Sonntag haben die Piraten in Berlin fast neun Prozent der abgegebenen Wählerstimmen erhalten. Das ist bemerkenswert und ich stelle mir die Frage, wie sie das geschafft haben.
Ohne das ganze nun genau belegen und konkrete Stellen zitieren zu können, haben sich bei mir zwei diffuse Ahnungen/Gefühle herausgebildet:
- Die Piraten haben die neun Prozent nicht dafür erhalten, dass sie sich für Netzpolitik einsetzen.
- Die anderen Parteien machen einen Fehler, wenn sie die Piraten auf Netzpolitik reduzieren und die neun Prozent mit einer angeblich speziellen Situation in Berlin zu erklären versuchen.
Was meine ich damit? Zum ersten Punkt: Natürlich verbindet jeder mit den Piraten zu allererst mal das Schlagwort Netzpolitik. Darunter verstehe ich, dass sie sich für Netzneutralität einsetzen, dass Themen wie Datenschutz vs. Postprivacy diskutiert werden und dass sie sich mit diesem ganzen technischen Krams auskennen. Ich glaube aber nicht, dass sie nur damit neun Prozent erhalten haben, auch nicht in Berlin. Ich glaube vielmehr, dass sie im Zuge dieser Beschäftigung mit Netzthemen sich zu einer Partei entwickelt haben, die einigen wichtigen Bedürfnissen von Wählern entgegenkommen:
Sie sprechen die Sprache ihrer Wähler, sie setzen auf völlige Transparenz und sie ermöglichen direkte Partizipation.
Sie sind über Twitter und Facebook 24/7 ansprechbar und antworten offen, ehrlich und direkt. Sie benutzen eine Sprache, die niemanden abkanzelt, jeder traut sich, sie anzusprechen, sie haben keine Prominenten in ihren Reihen, die den Wähler in Ehrfurcht erstarren lassen. Sie twittern darüber, wie sie ihre Wahlplakate kleben und aufstellen und stöhnen offen über diese Plackerei. Sie vermitteln sehr glaubhaft das Bild, dass sie durchaus ziemlich fehlbar sind, aber immer die guten Absichten vertreten. Sie sehen aus wie die tatendurstigen Anfänger, die – huch – 63 Milliarden auch schon mal als „viele Millionen“ bezeichnen. Aber ich glaube, dass die Wähler so einen Fauxpas zu verzeihen bereit sind, weil den meisten Wählern selbst dieser Fauxpas genauso hätte passieren können.
Die Piraten sind chaotisch und fachlich in vielen Fällen sehr angreifbar, aber sie sind emotional und in ihrer Emotionalität ehrlich, sie demonstrieren einen sehr nachdrücklichen Willen, die Politik selbst zu verändern. Sie schaffen, dass ein Wähler, der ihnen seine Stimme gegeben hat, glaubt, unmittelbarer an politischen Meinungsfindungs- und -bildungsprozessen teilgenommen zu haben als bei anderen Parteien. Durch ihren „Dilettantismus“ kommen sie daher, wie das änderungswillige Volk selbst: „Ich will unbedingt alles besser machen, ich habe zwar keinen Masterplan dafür und weiß viele Sachen nicht, aber ich setze meine ganze Energie dafür ein und fange jetzt sofort damit an!“
Das alles sind nach meiner subjektiven Wahrnehmung viel stärkere Faktoren, die für die Piraten sprechen, als ein Sachthema „Netzpolitik“. Ich glaube, dass vor allem die beachtliche Leistung, rund 20.000 Nichtwähler für sich zu mobilisieren, dafür spricht, dass die Piraten eine Ansprache gefunden haben, bei der sich mancher von den etablierten Parteien Verdrossener verstanden fühlt und deswegen seine Stimme für nicht vergeudet hält.
Zum zweiten Punkt: Ich befürchte, dass die SPD (um die es mir natürlich in erster Linie geht, aber ich vermute, dass die Tendenzen, die ich im folgenden zu beschreiben versuche, auch bei anderen etablierten Parteien anzutreffen sein dürften) diese neun Prozent der Piraten zu leichtfertig mit dem Begriff „Netzpolitik“ und einer angeblich speziellen Situation in Berlin zu erklären versucht. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir keine neuen Wähler für die SPD damit mobilisieren werden, wenn wir allein das Thema Netzpolitik stärker in den Vordergrund stellen (was selbstverständlich auch richtig und wichtig ist), sondern wir müssen uns bei den Piraten abgucken, wie man kommuniziert: mit dem Wähler und innerhalb der Partei.
Ottonormalverbraucher (oder wie auch immer man „den Wähler“ auch nennen möchte) muss sich immer dazu eingeladen fühlen und immer dazu eingeladen sein, uns zu beschimpfen und mit uns zu schimpfen, uns zu ermahnen und mit uns zu mahnen, sich über uns empören zu dürfen und sich mit uns gemeinsam zu empören, mit uns zu lachen, über uns zu lachen, weil wir selber über uns lachen können, uns seine Ideen mitzuteilen und unsere Ideen anzuhören, er muss uns immer antreffen können und er muss immer eine ehrliche Reaktion erhalten. Dann wird er uns auch unterstützen, wenn wir das Richtige tun.
Und mit „ehrliche Reaktion“ meine ich, dass man auch mal uninformiert ist und das nicht zu vertuschen sucht, dass man auch mal emotional ist und das durchaus auch zeigen sollte, eine ehrliche Reaktion beinhaltet auch, dass man auch mal „Ich habe gerade keine Lösung parat“ sagt. Emotionen sind nicht nur erlaubt, sie sind m. E. notwendig, denn sie binden einen Wähler nicht nur an eine Partei, sie binden einen Wähler an die Politik generell.
Die Wähler müssen immer sehen können, wie wir zu einer Meinung gekommen sind, die wir in politischen Entscheidungen vertreten, sie müssen immer sehen können, welche Kontroversen wir dabei innerhalb der Partei durchlaufen haben und welche Argumente und welche Zugeständnisse dabei zur Meinungsbildung geführt haben. Das ganze muss in einer Sprache erfolgen, die nicht nur jeder versteht, sondern die auch jeder selber spricht.
Jetzt habe ich so viel salbadert, um zu diesem platt klingenden Fazit zu kommen: Transparenz schafft Glaubwürdigkeit und Glaubwürdigkeit bringt Wählerstimmen.
Wenn ihr das auf Partei-Ebene – und aber genauso wichtig – in den Räten, Parlamenten, Verwaltungen und Regierungen auch hinbekommt, dann weiß ich, dass es eine gute Idee war, Pirat geworden zu sein. Ich wünsche euch viel Glück & Erfolg, dass ihr das hinkriegt.
Ihr habt ja auch leicht reden, Euch gibt’s ja quasi erst seit Sonntag ;-)
Und dass Du und andere Pirat geworden seid, war jetzt schon eine gute Idee. Ich glaube, dass Ihr auf so Sachen wie das-ist-sozialdemokratisch.de und die jüngsten Anstrengungen zur Parteireform schon eine gewisse Wirkung gehabt habt.