Am Dienstag hatte ja mein freundlicher kleiner SPD Ortsverein Beuel eine Veranstaltung mit Renate Hendricks und diversen anderen Vertreter*innen organisiert, um über das Thema „Turboabi – Turbostress?“ zu diskutieren.
Ich muss zugeben, dass ich zu dem Thema derzeit gar nicht mal so viel sagen kann, denn die Söhne sind ja noch längst nicht so weit. Irgendwas mit 265 Stunden ist da irgendwie wichtig und irgendwas mit Thüringen und G8 in allen anderen europäischen Ländern. Oder so.
Viele Teilnehmer*innen waren sehr nachvollziehbar sehr erbost darüber, dass die Kinder für das Abitur wahnsinnig viel Zeit aufwenden müssen und keinerlei Freizeit mehr haben. Das finde ich auch schlimm. Ich bin mir aber nicht sicher, ob einzig G8 der Grund für diese maßlose Überstrapazierung unserer Schüler*innen ist. Ich fand stark, als Dr. Ulrich Meier von der Stadtschulpflegschaft Bonn zu erkennen gegeben hat, dass es zu kurz greift, wenn man die Ursachen ausschließlich in der Verkürzung der Schulzeit auf G8 sucht. Er war der einzige (zumindest in meiner Wahrnehmung), der gefordert hat, die Lehrpläne grundsätzlich zu hinterfragen und die Probleme der Schüler*innen in einem breiteren Kontext zu sehen.
Die Rolle der Eltern und der Vertreter*innen der Initiative „G-IB-8“ erschien mir – aber das mag daran gelegen haben, dass ich mich bisher noch nicht tiefer damit auseinandergesetzt habe – ein wenig schizophren: Einerseits will man völlig zu recht und mit allen Argumenten auf seiner Seite die Überforderung und Überarbeitung der Schüler*innen unterbinden. Dieses Ziel unterschreibe nicht nur ich, dieses Ziel hatten alle im Saal anwesenden einmütig. Gleichzeitig aber, so schien es mir, wollten „G-IB-8“ und viele der anwesenden Eltern (zumindest gefühlt) keinen Millimeter vom Stoff für das Abitur abweichen und der Unterton dabei erschien mir von bildungsbürgerlichen Abgrenzungsbestrebungen bestimmt. Du musst den Ovid gelesen haben, damit man dich nicht mit den Versagern von der Hauptschule in einen Topf wirft.
Nun kann ich als Sozi gut verstehen, dass man Bildung als Mittel zum sozialen Aufstieg sieht und daher nach dem bestmöglichen Schulabschluss für seine Kinder strebt, das ist ja per se eine der ältesten sozialdemokratischen Forderungen und Anliegen. Ich habe aber derzeit nicht das Gefühl, dass die Lehrpläne, wie sie momentan ausgestaltet sind, die bestmögliche Ausbildung garantieren, sondern vielmehr der sozialen Abgrenzung dienen. Der Grund dafür liegt m. E. weniger in der Frage, ob man nun acht oder neun Jahre zum Abitur braucht, sondern ist erheblich vielschichtiger. Das fängt schon mal damit an, dass Kinder nach vier Jahren Grundschule das erste Mal ausgesiebt werden, quasi die Blöden an Haupt- und Realschule, und wer es schafft, rettet sich aufs Gymnasium. Zu recht hat Ulrich Meier das Gymnasium als die neue Volksschule bezeichnet, denn wer heute nicht aufs Gymnasium geht, der verliert. So zumindest scheint die Wahrnehmung zu sein. Ich meine auch gelesen/gehört/gesehen zu haben, dass durch Studien belegt sei, dass das deutsche Schulsystem ganz besonders stark die sozialen Verhältnisse verfestigt. Von daher halte ich ein einfaches „zurück zu G9“, wie an dem Abend von vielen gefordert, für unzureichend.
Ich glaube vielmehr, dass wir am Grundsatz des dreigliedrigen Schulsystems rütteln müssen und dass wir modernere Lehrpläne brauchen. Verkürzt gesagt glaube ich, dass wir weniger Latein- und mehr IT-Kenntnisse vermitteln müssen. Ich glaube, dass wir Kinder nicht in „Dumm“ (Hauptschule), „Kriegst vielleicht später nochmal ’ne Chance“ (Realschule) und „Ok, kannst durch“ (Gymnasium) separieren dürfen. Ich glaube, dass wir eine runderneuerte Lehrer*innenausbildung brauchen. Ich glaube, dass die Lerninhalte prinzipiell anders ausgerichtet sein sollten: Die Wichtigkeit von Faktenwissen ist erheblich geschwunden seitdem dieses nur noch einen Searchrequest entfernt ist. Ich glaube, dass Schule Wege vermitteln muss, wie Kompetenzerwerb überhaupt vonstatten geht und wie dieser Kompetenzerwerb mit heute gängigen Mitteln vonstatten geht. Dabei könnte man – als Beispiel – vielleicht Filtermechanismen auf verschiedenen Ebenen vermitteln: Was gebe ich von mir in welcher Form preis und wie reagiere ich auf andere? Wie ist andererseits das Verhalten anderer mir gegenüber zu bewerten? Welche Metadaten generiere ich und was sagen sie über mich aus? Welche Daten habe ich unter Kontrolle und welche nicht?
Ich glaube, dass wir den sozialen Druck, den das dreigliedrige Schulsystem auf Eltern, Schüler*innen und Lehrpersonal ausübt, reduzieren müssen und ich glaube nicht, dass das eine Frage von acht oder neun Jahren bis zum Abitur ist. Ich glaube vielmehr, dass massiv in Bildung investiert werden muss. Ich halte zum Beispiel die Inklusion für ein epochales Projekt, das mit allen Geldmitteln zum Erfolg gemacht werden muss. Ich glaube, dass neben hervorragend ausgebildetem Lehrpersonal massiv in schulische Infrastrukturen investiert werden muss, und damit meine ich nicht nur Mobiliar und IT-Infrastrukturen, sondern auch die Organisation von Lerneinheiten an unterschiedlichen Orten, denn ich habe das Gefühl, dass moderne Lernmittel es vor allem auch ermöglichen, die Orte, an denen gelernt wird, zu variieren. Das bedarf natürlich einer nicht unerheblichen Organisation, und die darf selbstverständlich nicht einfach den Lehrer*innen zusätzlich aufgebürdet, sondern muss durch zusätzliches Personal gewährleistet werden. Schule muss so dick finanziert sein, dass Schule allen Beteiligten nichts anderes als Spaß macht. Schule muss allen Kindern unabhängig von elterlichen Fähigkeiten, Einsatzbereitschaft und Geldbeutel ermöglichen, einen den Fähigkeiten des Kindes entsprechenden Abschluss abzulegen.
Ich glaube, dass die Diskussion „G8 oder G9“ für sich genommen erheblich zu kurz greift und unnötig Energien bindet, die viel besser dafür eingesetzt wären, die strukturellen Probleme des deutschen Schulsystems anzugehen, damit Bildung vielleicht tatsächlich eines Tages eine emanzipierende Wirkung erzielen kann.
Aber ich fordere hier mal einfach so ins Blaue. Renate Hendricks hat’s gesagt: Die Geldmittel wachsen nicht in den Himmel. Die Diskussion wird sehr erhitzt und aus tiefen ideologischen Gräben heraus geführt. Derweil lehne ich mich auf meinen Privilegien zurück, stamme ich doch aus einem Elternhaus, in dem Bildung immer sehr hoch geschätzt und gelebt wurde und habe ich doch selbst einen Haushalt mitgeschaffen, in dem unseren Kindern vom Säuglingsalter an vorgelesen wird. Aber gerade ich, als Privilegierter, muss ja erst recht die Maximalforderungen stellen, denn ich möchte nicht zu denen gehören, die froh sind, sich endlich von dem ganzen Gesindel abgegrenzt zu haben. Ich möchte meine Steuermittel sehr sehr gern darin investiert sehen, dass vermeintlich schwierige Kinder in ein System kommen, in dem sie es weniger schwer haben und in dem sich ihrer angenommen wird, wo sie sich nicht beweisen müssen, sondern sich entwickeln können, wo sie nicht unter Druck gesetzt, sondern interessiert werden. Dazu braucht’s Personal, viel Personal – und das kostet viel Geld, das ich gern zu zahlen bereit bin.
Ach, ich weiß nicht. Ich hab das mal so runtergeschrieben. Wahrscheinlich weiß ich so viel Zeug gar nicht. Wahrscheinlich kann ich gar nicht beurteilen, warum alle so tief in den ideologischen Gräben verschanzt sind. Ich weiß, dass es meinen Privilegien geschuldet ist, dass ich für mich genommen erstmal zu mehr Gelassenheit aufrufen würde. Aber wie gelassen kann man schon sein, wenn die eigenen Kinder in ein System gepresst werden, das sie gesellschaftlich und in der eigenen Wahrnehmung tief brandmarkt, wenn sie nicht mit allen, zur Not auch repressiven Mitteln ins gelobte Land, also zum Abitur, gepeitscht werden.