Vor ein paar Tagen bin ich über den Beitrag „Verwalter ohne Visionen: Warum ich politikverdrossen bin“ von @martinweigert bei netzwertig.com gestolpert. Darin bemängelt Martin, dass der Politik die Menschen mit den großen Visionen fehlen, also „Personen, die Tatsachen über den bevorstehenden erforderlichen Neustart von gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Strukturen aussprechen und die es gleichzeitig schaffen, das darin liegende enorme Verbesserungspotenzial für die Allgemeinheit zu vermitteln.“
Dazu ein paar Anmerkungen, was mir dazu die letzten Tage so durch den Kopf ging.
Transformation statt Neustart
Ich glaube nicht nur nicht, dass es keinen Neustart braucht, sondern ich glaube vielmehr, dass ein „Neustart“ sogar kontraproduktiv bis gefährlich wäre, denn die Errungenschaften aus rund 70 Jahren bundesrepublikanischer Demokratie einfach mal so zu skippen und bei Null von vorne anzufangen kann nur im Chaos enden. Die Herausforderung heißt nicht Neustart, sie heißt Transformation. Wie kriegen wir es hin, die bestehenden Strukturen so zu wandeln, dass sie den neuen Gegebenheiten gerecht werden? Wie kriegen wir die Transformation hin, ohne die Menschen dabei zu verlieren? Ein „Neustart“ ließe viele, wenn nicht sogar die meisten, zurück. Die Transformation ist ungleich schwieriger, weil sie alle Abhängigkeiten im Auge behalten muss und uns langsam und schwerfällig vorkommt, aber sie ist notwendig, um die Leute nicht wirtschaftlich und sozial zu entwurzeln.
Politisches Personal
Der zweite Aspekt, der mir durch den Kopf geht, dreht sich um das politische Personal. Erstens glaube ich nicht, dass unsere Politiker*innen alle so betonköpfig sind, wie Martin es in seinem Beitrag suggeriert. Wir haben durchaus engagierte und mit digitaler Übersicht ausgestattete Politiker*innen, ich nenne mal @larsklingbeil, @UlrichKelber und @c_kampmann (alle SPD) und @KonstantinNotz (Grüne). Natürlich wird es noch dauern, bis Poltiker*innen wie diese in der ersten Reihe angekommen sein werden, natürlich ist ein Günther Oettinger ein Fossil im Amt des EU-Kommissars für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft. Aber sollen sich die Digitalauskenner plötzlich in diesen Ämtern aus dem Nichts materialisieren? Legitimiert von wem? Von uns™, der Netzgemeinde™? Es ist nun mal so, dass es eines langen Atems bedarf, um „da oben“ anzukommen, und das ist erstmal auch ganz gut so. Es ist, wenn ich mal einen Text von @BoehningB aus dem Jahr 2012 zitieren darf, nämlich ganz und gar nicht so, „als könne und wolle jeder andere Politik besser, nur lasse man sie nicht.“ Das zu suggerieren schafft am Ende nämlich noch viel mehr Politikverdrossenheit (meine Güte, was haben die Piraten damals über diesen Text von Björn geschäumt und meine Güte, wie sehr er am Ende recht behalten hat!)
Politischer Nachwuchs: Ihr!
Ich finde, dass wir den politisch Interessierten die bestehenden Parteien nicht weiter madig reden dürfen, sondern sie im Gegenteil endlich und vehement dazu auffordern müssen, sich in diese Parteien einzubringen. Jede*r in dem Maße, wie es ihr/ihm möglich ist, jede*r bringt so viel Zeit mit, wie er/sie übrig hat, der/die eine*r mehr, der/die andere halt weniger.
Aber bitte! glaubt nicht, dass Euch so eine Partei gleich gehört, nur weil ihr einer beigetreten seid. Stellt Euch auf ein ganzes Leben mit dieser Partei ein. Kommt in einen Ortsverein und lernt da erstmal alle kennen. Bringt Euch ein, aber erwartet nicht, dass so ein OV gleich gebannt an Euren Lippen hängen wird, in gespannter Erwartung Eurer unfehlbaren Weisheit. Sprecht mit denen, die schon länger dabei sind, sprecht mit denen über Eure Themen, sprecht mit ihnen darüber, wie man Anträge schreibt und wie man die am besten einbringt. Wo man die am besten einbringt. Schreibt Anträge. Habt keine Angst, dass andere etwas besser wissen, sondern profitiert davon, dass sie es besser wissen. Denn sie wissen vieles besser als Ihr. Und die Strukturen dieser bestehenden Parteien, sind in vielen Fällen Euer Rückhalt. Und, das ist meine Erfahrung, die anderen sind nett (zumindest in der SPD Beuel).
Als ich 2011 in die SPD eingetreten bin, hielt ich das für einen großen Schritt. Ich hatte allerlei Bedenken, was würden die Menschen um rum sagen? Würden mir Nachteile daraus entstehen? Ich arbeite als Selbstständiger im Konzernumfeld, mein Vorurteil war, dass da alles, was sich überhaupt politisch zu positionieren getraut, mit Auftagsentzug und direkt folgendem sozialem Abstieg bestraft werden würde. Wie dumm, aber das war eine meiner subtilen Ängste. Eine andere: Würden mich die um mich rum für Fehlentscheidungen der SPD haftbar machen? Interessanterweise werde ich tatsächlich oft mit „wer hat uns verraten“ konfrontiert, es geht dabei meist um die Kriegskredite 1914 (die ich selbstverständlich abgelehnt hätte, wenn nicht zufällig erst zwei Kriege später geboren worden wäre) oder um die Entscheidung zur Asylpolitik 1992 – die ich für ziemlich verfehlt halte. Wie reagiert man darauf? Einerseits ist es ja durchaus so, dass die Menschen mir als Sozi diese Sachen zu recht vorhalten, denn in einer Partei zu sein bedeutet, nach diesen Dingen gefragt zu werden. Andererseits heißt in einer Partei zu sein noch lange nicht, diese Positionen zu teilen, sondern viel mehr, sich mit seinen Möglichkeiten dafür einzusetzen, diese Positionen in der Partei zu ändern. Heißt: Antrag zur Asylpolitik schreiben, zusammen mit anderen Genoss*innen die eigene Position zu schärfen und zu formulieren. Verbündete in höher gelegenen Gliederungen zu finden und den Antrag einzubringen, abstimmen zu lassen. Verlieren und sich aufregen. Neue Wege suchen. Vielleicht irgendwann einen Antrag durchzubekommen (um dann zu erleben, wie die Mandatsträger der eigenen Partei dann in Regierungsverantwortung wieder was anderes entscheiden, hrmpf!)
Was bringt mir so eine Partei also ausser Frust und Niederlagen? Ich persönlich empfinde es als den größten Gewinn, was ich in dieser Partei lerne. Die banalsten Dinge waren: Was ist überhaupt eine Fraktion, was sind innerparteiliche Gremien und was sind öffentliche Gremien? Interessanter wird es bei: Wie gehen die Menschen in der Partei miteinander um, wie gehen sie mit Menschen in anderen Parteien um? Was macht eine Wahlniederlage mit uns? Wie fühlt sich ein Wahlkampf an? Daraus entsteht ein erheblich differenzierteres Politikverständnis als beim bloßen auf der Couch sitzen und sich aufregen. Man bekommt ein Gefühl dafür, was in welchem Tempo möglich ist. Man bekommt ein Gespür dafür, wie lange eine Transformation dauern kann, man weiß auf einmal, dass es keine Neustarts gibt, sondern nur Wandel. Man stellt fest, dass man selbst höchst fehlbar ist und man stellt fest, dass es schön ist, wenn mich andere, die schon viel länger und viel intensiver über ein Thema nachgedacht und diskutiert haben, korrigieren können und es ist noch schöner, wenn man sieht, dass man selbst eigene Aspekte in die Diskussion einbringen kann und dass die gemeinsame Position durch mich plötzlich viel stabiler ist. Es ist schön, dass man all den Meckerer*innen sagen kann, dass man tut was man kann – konstruktiv. Und es ist schön zu sehen, wie viele engagierte Menschen es in so einer Partei gibt, die nur für diese in Heller und Pfennig nicht messbaren Goodies genau dasselbe tun wie ich, das gibt einem ein kleines bisschen den Glauben an die Menschheit zurück.
In den paar Jahren in der SPD habe ich wahrscheinlich noch keine einzige meiner eigenen Ideen umgesetzt bekommen. Aber ich habe mich gegen die VDS eingebracht, die ist zwar noch längst nicht tot, aber zumindest erstmal auf Eis. Ich habe für den Mindestlohn Wahlkampf gemacht und der ist jetzt da. Aber was mindestens genau so wichtig ist: Ich bin heute viel schlauer als 2011, in einer Partei zu sein heißt lernen.
Um jetzt mal auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Das politische Personal der Zukunft rekrutiert sich aus Euch. Und wenn Ihr selbst es auch nicht sein werdet, die 2030 das Wirtschaftsministerium leiten, so habt Ihr in einer Partei zumindest mehr Einfluss darauf als auf der Couch oder auf einer Montagsdemo. Sich aufregen ist ein Anfang, aber da solltet Ihr nicht aus Bequemlichkeit stehen bleiben, sondern zu Handelnden werden. Und eine*r von Euch wird dann 2030 oder 2040 das Wirtschaftsministerium leiten (oder ich, harrharr!!)