Was das Bild des toten Kindes am Strand von Bodrum mit mir macht. Heute morgen habe ich es zum ersten Mal gesehen und es lässt meine Tränen kullern und kullern.
Auf der Arbeit habe ich heute viele Workshops gemacht und das getan, wofür ich bezahlt werde, ich habe mich in Konzepte und Prozesse versenkt und zwischendurch habe ich das Bild vor Augen und wieder drohen die Tränen zu kullern vor all den Kolleg*innen, schnell sage ich was zu Kundenserviceabläufen, um das Bild wegzukriegen und nicht blöd dazustehen vor den Damen und Herren in den Businessoutfits, man weint hier nicht.
Nur meiner Frau gegenüber habe ich heute morgen zugelassen, dass es mich heulen macht. In meiner TL lese ich, dass es anderen auch so geht wie mir, dass sie still vor sich hin weinen. Ich habe keine Ahnung, wie viel Schuld mich trifft am Schicksal dieses Kindes. Es sieht aus wie mein Kind, mit dem Gesicht im Wasser. Ich lese vorwurfsvolle Artikel, dass ich ja wohl nicht weinen würde, wenn das Kind nicht so europäisch aussähe. Ich würde nicht weinen, obwohl täglich tausende andere Kinder genauso ums Leben kommen, ertrinken, ersticken, von überfüllten Seelenverkäufern über Bord ins Meer geworfen werden.
Dieses Bild tut so weh, man kann es nicht ungesehen machen, es verfolgt eine*n. Eine Reaktion vieler in meiner TL ist: „Wer mir das rein retweetet, den blocke ich!“ Ich finde wichtig, dass ich es gesehen habe und dass es mit mir macht, was es macht. Ich blocke niemanden.
Call me an Unmensch, aber ich weine über dieses Kind, weil es aussieht wie meins. Es ist nicht entstellt, es stellt eine Verbindung her zwischen dem Leid und meinem geschützten und privilegierten Leben. Es bringt das Leid in mein Leben in Schwarzrheindorf und zwar mit einer Wucht, dass ich mich in Meetingräumen zwischendurch zur Wand drehen muss. Es ist, wie @mathiasrichel sagt, Europas Ground Zero.
Während ich sitze und heule, streifen die Analytiker im Netz umher und bewerten mit ihrer Fachkenntnis, wer Schuld trägt, Assad oder die EU oder beide und wir alle sowieso, weil wir die gewählt haben, die diese Gesetze gemacht haben. Sie analysieren Texte und Äußerungen. Sie werfen der Politik Bigotterie vor und zitieren Reports von Bundesministerien und statistische Auswertungen und kennen die wahren Schuldigen und mit ihrem messerscharfen Verstand ziehen sie messerscharfe Schlüsse sagen: „Siehst du! Sowas kommt von sowas!“, und ich sitze und weine unhörbar, als meine Kinder ganz ganz zufrieden in meinen Armen einschlafen. Ich habe ihnen „Der Mond ist aufgegangen“ und „Die Blümelein, sie schlafen“ gesungen.
Ich habe kein Rezept und ich habe keine Antwort. Ich bin nicht sauer auf irgendwen, nicht aufgebracht, ich weiß nicht, wen ich verurteilen muss und wenn ich sage, ich bin traurig, dann ist das richtig, aber irgendwie auch nicht richtig, denn ich bin glücklich, wie meine Kinder da schlafen, mit den Gesichtern nach oben, in ihren Betten und nicht im Wasser.
Ich weiß nicht, was zu tun ist, aber es muss irgendwas mit helfen und ändern und Verantwortung übernehmen sein. Es muss was mit teilen zu tun haben. Es muss was mit abgeben zu tun haben, mit Anteilnahme, mit eintreten und einer altmodischen Aufrichtigkeit, die wir allenthalben belächeln, wenn wir unsere messerscharfen Schlüsse ziehen.