Heute morgen hab ich gedacht: Wir schieben seit Jahrtausenden etwas vor uns her, was ich mal arbeitstitelhaft als „zwischenmenschliche Schulden“ bezeichnen will. Damit meine ich, dass wir im Umgang miteinander noch längst nicht die Grenzen des Machbaren erreicht haben. Freundlichkeit ist eine willkommene, aber seltene Ausnahme vom Default Misstrauen. Über Jahrtausende haben wir uns angewöhnt, dass man besser immer erstmal vorsichtig sein muss, weil der/die andere uns by default erstmal was wegnehmen will. Unsere Grundhaltung ist: Sei nicht blauäugig, sei misstrauisch, selbst Schuld, wenn Du blauäugig und nicht misstrauisch bist. Misstrauen gebiert neues Misstrauen.
Wir haben das nur über die Jahrtausende ausgehalten, weil wir, wenn’s uns zu viel wurde, einfach weggehen konnten, in die Höhle, aufs Klo oder ins Bett.
Jetzt werden wir immer vernetzter. Wir entkommen dem dauernden Misstrauen, den Shitstorms und Hetzereien immer seltener, das Internet kommt inzwischen mit aufs Klo und ins Bett und das stresst uns. „Dann mach doch Dein dämliches Smartphone aus, Du Honk!“, sagt Ihr und das mache ich ja auch manchmal.
Aber das ist ja wie weglaufen und durch Weglaufen erhöhen sich die Schulden. Wir haben es uns über Jahrtausende geleistet, nicht in unsere Zwischenmenschlichkeit zu investieren. Durch Jahrhunderte des Mangels (an Nahrung, Wohnraum, Grundversorgung) entstanden, durch die Einfachheit des Sich-Entziehen-Könnens verfestigt, hat sich an der Grundhaltung „Misstrauen“ nie substanziell etwas geändert.
Jetzt erreichen wir ein Entwicklungsstadium auf technischer Ebene, dass uns vor die wichtigste Aufgabe seit Bändigung des Feuers stellt: Toleranz nicht als „aushalten, bis ich zu Hause bin“ misszuverstehen, sondern in unserem Inneren tolerant zu sein. Es wirklich ok finden, wenn jemand etwas anders macht als ich, nicht insgeheim die Augen rollen und der/dem anderen innerlich den Vogel zeigen. Meine eigene Wertung als meine subjektive Wertung erkennen und nicht als objektives Faktum missverstehen.
Wir müssen ans Eingemachte. Digitale Vernetzung macht das nicht nur evident, sondern notwendig. Die eiskalten Entscheidungen treffen Maschinen viel besser als unsere Manager*innen und Politiker*innen, Maschinen sind im „Tja! Kann man nichts machen!“ sagen viel besser als Menschen.
Es geht jetzt darum, dass wir uns um einander kümmern. Es geht darum, dass wir den Maschinen sagen: „Kann man wohl was machen, weil wir Menschen sind und ihr nicht!“ Ich klinge, als tanzte ich in Batikwallegewändern um ein Feuer, aber ich bin ganz ernst: die Ratio, seit Menschengedenken bejubelte Fähigkeit Nummer eins unserer Gehirne, verliert an Bedeutung, weil Maschinen das besser können. Was Maschinen nicht können ist „Mach ich aber trotzdem anders, einfach weil ich den/die andere*n mag!“ sagen. Weil ich mich gut fühle, wenn mein Gegenüber im Bus morgens nicht mehr grimmig schauen muss, weil der kleine Sohn ihm/ihr ein Kompliment gemacht hat. Weil „sich gut fühlen“ zu einem Wert werden muss, der nicht länger als selbstsüchtig gelten darf, sondern als Notwendigkeit begriffen werden muss. Weil „sich gut fühlen“ nicht länger auf Kosten anderer entstehen darf, sondern im gemeinsamen Erleben.
Wenn die Netzeffekte auf „sich shice fühlen“ treffen, entstehen Shitstorms (was ja noch vergleichsweise leicht auszuhalten wäre) oder, viel schlimmer, Pogrome. Wenn Netzeffekte auf „sich gut fühlen“ und „sich gut fühlen wollen“ treffen, stehen tausende an den Bahnhöfen und bringen Klopapier, Zahnpasta und Windeln.
Sicher findet Ihr ganz viele Abers und GehtNichte. Ich bin nur ein Duscher und kein Denker, der sich dank seiner bullerbühaften Kindheit im Stroh von Rhade erlauben kann, die Menschen zu mögen. Ich weiß, dass ich in dieser Hinsicht privilegiert bin, und Privilegien beinhalten auch immer eine Pflicht. Meine Pflicht ist, die Menschen zu mögen und das kann ich.
Nein, kein Gehtnicht, kein Aber. Du beschreibst eine notwendige Entwicklungsstufe der Menschheit. Punkt.